Theaterstück "Räuberhände"

Thalia Theater Gaußstraße, Hamburg

 

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Interview mit Finn-Ole Heinrich zu seinem Roman "Räuberhände"

Von Peter Reichenbach, mairisch Verlag

Peter Reichenbach: Finn, mit Deinem Roman "Räuberhände" ist inzwischen ja allerhand passiert. Aber wie kam es eigentlich zu der Geschichte von Janik und Samuel? Welche Fragen haben Dich auf diesen Text gebracht?

Finn-Ole Heinrich (Foto: Denise Henning)
Finn-Ole Heinrich (Foto: Denise Henning)

Finn-Ole Heinrich: Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat das alles mit einer Erinnerung angefangen: In Cuxhaven, wo ich zur Schule gegangen bin, bin ich oft einer Frau begegnet, der man ansehen konnte, dass sie eine Alkoholikerin war, ich sah sie auch oft bei den Obdachlosen sitzen. Ich hab mich damals schon gefragt, wie das wohl wäre, ihr Sohn zu sein. Daran kann ich mich noch heute gut erinnern, ich hab das oft im Kopf durchgespielt, die Fragen, wie ich mich verhalten würde, ob ich stolz wäre, verschämt, ob ich sie verstecken, beschützen oder hassen würde, wie man mit mir umgehen würde, ob man mich ausgrenzen, hänseln, benachteiligen oder bemitleiden würde. Wie sich das anfühlen würde. Da war ich vielleicht zehn. Warum das irgendwann mit Anfang zwanzig plötzlich als Erinnerung und Frage wieder in mir auftauchte, keine Ahnung. Ich musste plötzlich und ohne ersichtlichen Grund an eine viel spätere Begegnung mit dieser Frau denken, als sie mich auf einem Cuxhavener Stadtfest taumelnd in die Arme nahm, offenbar mit mir tanzen wollte – sie hat mir dann wirklich den Halbsatz „mein schöner Junge“ ins Ohr gesäuselt, der es genau so ins Buch geschafft hat. Wir kannten uns kein bisschen, ich hab sofort Reißaus genommen. Habe mich, Jahre später an meinem Schreibtisch sitzend, plötzlich gefragt, was passiert wäre, wenn ich nicht weggelaufen wäre. Dann fingen die Gedanken an: Was, wenn ich ihr Sohn wäre? Oder: Was, wenn ich der Freund ihres Sohnes wäre? Da hatte ich schon meinen Plot. Samuel mit seinen zerbissenen Fingern war sofort da, aus dem Kontrast zu ihm ist langsam Janik erwachsen. Ihre Freundschaft und die heftigen Umstände waren vielleicht mein Hauptthema, auch nicht ohne biographischen Bezug: Ich war damals einfach in einer Phase, in der ich mich viel mit mir selbst und meinen Lebensbeziehungen beschäftigt habe. Wer bin ich, wer will ich sein, mit wem will ich sein, welche Beziehungen will ich führen, unter welchen Umständen kann Freundschaft schwierig oder gar unmöglich werden, was muss Freundschaft aushalten, was kann sie nicht leisten? Die Fragen von Migration und Heimat kamen etwas später hinzu und haben mit der Auseinandersetzung mit einer türkischen Kommilitonin zu tun. Wir haben viel und intensiv miteinander gesprochen und gearbeitet. Mich haben ihre Fragen und Wirren fasziniert, das Hin-und-Hergerissensein zwischen zwei Kulturen, die Unklarheit, ob man woanders ein anderer geworden wäre. Fragen, die man sich mit einer relativ eindeutigen Herkunft (wie meiner) wohl nicht oder wenigstens nicht in dieser Intensität stellt.

Reichenbach: Warum ist Janik so fasziniert von Irene und ihrer Pennerwelt?
Heinrich: Ich glaube, Janik ist ein sehr wacher und interessierter Mensch. Man kann ihm sicherlich eine Menge vorwerfen, aber nicht, dass er blind durch die Gegend läuft. Er ist interessiert am Leben, seiner Funktionsweise, er interessiert sich ganz einfach für die Bandbreite des Lebens, zweifelt am Entwurf seiner Eltern. Er will einfach wissen, welche Möglichkeiten das Leben bereithält und ist nicht bereit zu glauben, dass das scheinbar Gute, nur weil es sich direkt vor seiner Nase abspielt, auch das richtige für ihn ist. Perfektion ist nicht die Kategorie, die Janik anzieht, davon hat er genug gehabt in seinem Leben. Zumindest für den Moment scheint ihn erstmal das Gegenteil anzuziehen.

Reichenbach: Das, was mit Irene passiert, trägt Janik ja im Folgenden immer mit sich herum und es beeinflusst auch die Beziehung zwischen Samuel und Janik. War "Schuld" für Dich ein Thema beim Schreiben?
Heinrich: Klar. Ich glaube nicht, dass man so etwas einfach vergessen oder übergehen kann. Auch wenn Janik immer wieder nach Rechtfertigungen und Ausreden sucht, weiß er doch um seine Schuld. Er hat etwas getan, was nieniemals hätte passieren dürfen. Es ist nicht nur seine Schuld, das finde ich auch, aber ohne sein Zutun wäre es eben auch nie passiert. Das ist die Wahrheit und das bleibt. Er hat sich schuldig gemacht. Und entschuldigen kann nur Samuel ihn. Ob das gelingt, irgendwann, weiß ich auch nicht. Zum Zeitpunkt der Romanhandlung finden sie ja noch keine Lösung für dieses Problem.

Reichenbach: Janiks Eltern kommen in seiner Schilderung ja nicht so gut weg - warum gibt es bei Janik so einen großen Widerwillen gegen seine doch eigentlich ganz korrekten Eltern?
Heinrich: Naja, das hat eben mit diesem Wunsch nach Abgrenzung und Selbstbehauptung zu tun. Auch mit dem Erfahren und der Wertschätzung der „Gegenwelt“ von Irene. Janik weiß ja darum, dass er seinen Eltern kaum etwas vorhalten kann, er sagt es selbst: sie machen ja alles richtig, und ich würde es genauso tun wie sie, aber sie machen es ja schon. Das ist sein Dilemma. Wenn er nicht alles anders macht als sie, wenn er einfach so lebt, wie sie es ihm vorleben, woher soll er dann wissen, ob das Leben wirklich seines ist? Janik nimmt, wie gesagt, das Leben ernst und er will wissen, was das ist: Leben. Er will es verstehen, will seinen eigenen Weg finden. Und der erste Schritt ist dabei eben die Abgrenzung.
In dieser Szene rund um Samuels Geburtstag formuliert er einmal auch sehr eindrückliche Kritik, finde ich. Da gehe ich jedenfalls selbst mehr mit als in den anderen Punkten: als seine Eltern Samuel das Fahrrad schenken und damit Irenes Geschenke quasi wertlos machen. Diese Unbedachtheit. Es ist ja gut gemeint von seinen Eltern, großzügig, liebevoll, aber eben: zerstörerisch in gewisser Weise. Diese gutgemeinte Geste ist für ihn ein Symbol für die Gutmenschenmacht seiner Eltern. Diese Kritik finde ich nachvollziehbar, in diesem Punkt sind sie unsensibel.

Reichenbach: Es gibt ja in vielen Geschichten einen Motor oder Zielpunkt - welcher ist das hier für Dich? Der Vater? Istanbul? Oder das Wiederfinden der Freundschaft?
Heinrich: Ja und in einer Geschichte mit mehreren Strängen, vielleicht sogar verschiedenen Protagonisten (auch wenn immer Janik der Erzähler bleibt, ist ja jede Figur in ihrem eigenen Film die Hauptfigur), gibt es möglicherweise auch mehrere Motoren. Im Kern geht es aber um das Wiederfinden der Freundschaft, würde ich sagen, oder um ihre Rettung. Damit verbunden aber auch das Finden der eigenen Identität, des eigenen Wegs.

Reichenbach: Wieso ausgerechnet Türkei / Istanbul? Was ist Dein Bezug zur Türkei?
Heinrich: Das ist, wenn man so will, beliebig. Die Türkei ist sehr präsent in Deutschland, Türken sind die größte Migrantengruppe und egal in welchem Kontext, immer habe und hatte ich mit Türken zu tun. In der Schule, im Sportverein, im Studium, wenn ich Gemüse kaufe, Döner esse, Musik höre, ins Kino gehe – egal. Und weil die Fragen, um Migration und Heimat dann noch ausgelöst wurden von besagter türkischer Kommilitonin fand ich es nur angemessen, dass die beiden sich nach Istanbul aufmachen. Das ist inzwischen auch ein Stückweit bundesdeutscher Realität: die Kinder machen sich auf die Suche nach den Geschichten ihrer Eltern oder Großeltern. Das finde ich eine nicht unspannende Komponente dieser Geschichte. Unserer Geschichte.

Reichenbach: Hattest Du Angst, mit Samuels türkischer Herkunft Klischees zu bedienen?
Heinrich: Angst vielleicht nicht, aber sowas in der Art. Ein bisschen leichter wurde die Aufgabe dadurch, dass Samuel ja nicht wirklich Ahnung von der Türkei hat, sondern sich da in etwas hinein-imaginiert, von dem er selbst nur bedingt Ahnung hat.

Reichenbach: Welche Rolle spielen Samuels Hände, die "Räuberhände". Oder anders: Erklär mal den Titel.
Heinrich: Für mich ist das Wort „Räuberhände“ das Wort, das am ehesten auf den Kern dieser Erzählung trifft: Janik und Samuel, ihre Freundschaft. „Räuberhände“ ist ein Kopfwort von Janik, ein Geheimwort, ein Geheimname für seinen besten Freund. Es beschreibt, wie Janik auf seinen Freund blickt, es beschreibt ihr Verhältnis. „Räuberhände“ ist ein rauhes Wort, aber gleichzeitig ist das eine sehr poetische Beschreibung, fast zärtlich: Der mit den Räuberhänden. Dieses eine Wort trägt viele der Spannungen dieser Geschichte in sich. Janik benutzt es in seinem Kopf häufig und merkt nicht, dass er selbst tut, was er seinen Eltern so schrecklich übel nimmt: dass sie an Samuel herumpsychologisieren. Er selbst tut es auch, meint, in den zerbissenen Fingern seine psychische Sollbruchstelle zu sehen, hält den Zustand seiner Finger für eine Art Seismographen für Samuels Gefühlszustand.

Reichenbach: Welchen Effekt hat Samuels Krankheit in Istanbul auf das Verhältnis zwischen den beiden?
Heinrich: Na, während der Krankheit erstmal den, dass Janik sich kümmern muss. Samuel ist voran gegangen, hat die Stadt erkundet, ist vorgelaufen, er war der Motor. Ohne ihn merkt Janik wie klein er in dieser Stadt ist, wie fehl am Platz. Ich habe das Gefühl, dass Janik unbewusst etwas wiedergutmachen will mit seiner Sorge und Pflege. Er will zeigen, dass er für Samuel da ist. Er hofft, dass sein Da-Sein für Samuel ihr Verhältnis bessert. Als Samuel dann wieder zu sich kommt und nicht dankbar oder besänftigt ist, sondern im Gegenteil noch Vorwürfe macht, wird die Zeit im Nachhinein fast wie ein Brandbeschleuniger, weil jetzt im Streit, in der Verletztheit endlich die Themen auf den Tisch kommen. Außerdem ist ja auch ihre finanzielle Situation plötzlich problematisch und verlangt nach einer Lösung.

Reichenbach: Ok, diese Frage muss kommen: Ist Janik schwul?
Heinrich: Mh, ja, muss wohl echt kommen, werde ich wirklich bei fast jeder Lesung gefragt. Überrascht mich eigentlich, dass das so wichtig ist. Ich muss erstmal sagen: ich will da nicht die Deutungshoheit an mich reißen. Wenn man beim Lesen das Gefühl hatte, dass Janik schwul ist und dass das möglicherweise ein Thema in diesem Text ist, dann ist das so, wenn man dadurch irgendwelche Fragen diesbezüglich in den Kopf bekommt, dann ist das ja toll. Für mich war das beim Schreiben allerdings kein Thema, oder jedenfalls nicht so richtig.
Die körperliche Nähe, die die beiden miteinander haben, ist relativ normal unter zwei Jungs um die zwanzig, die sich schon jahrelang kennen. Da hat man sich schon tausendmal gegenseitig umgeruppt, im Schwitzkasten gehabt, in die Eier gehauen, ist nebeneinander eingepennt, hat nach dem Sport unter der Dusche gestanden. Auch wenn Kuscheln unter den meisten Jungs wohl noch verpönt ist, gibt es eine Menge körperlicher Nähe, die völlig normal und nicht der Rede wert ist. Warum es plötzlich so bedeutsam wird: weil Janik die Selbstverständlichkeit dieser Körperlichkeit vermisst. Er weiß nicht mehr, ob ihm die zuvor völlig normalen Berührungen jetzt noch zustehen. Und je länger es dauert, bis sie Worte finden für das Vorgefallene, desto größer wird der Wunsch, sich auf körperlicher Ebene ihrer Freundschaft zu versichern. Was er sich ja plötzlich nicht mehr traut – das ist ein Teufelskreis. Eigentlich nur deshalb kommt das Thema immer wieder zur Sprache: Etwas ist kaputt gegangen zwischen ihnen und es wird an dieser Stelle besonders deutlich. Bei jeder Berührung zuckt man zusammen, weil man nicht weiß, ob der andere das noch erträgt.
Als ich den Text im Ganzen nochmal gelesen habe, ist mir schon aufgefallen, dass sich das stellenweise ein bisschen „schwul“ liest. Ich fand es interessant, dass das dem ein oder anderen Leser (dachte ich so heimlich bei mir) vielleicht im Hinterkopf als Frage rumspuken könnte: Warum Zärtlichkeit unter Männern noch so häufig stigmatisiert und sanktioniert wird. Freundinnen können kuscheln, sich umarmen, streicheln und so weiter. Warum sind Jungs im gleichen Falle schwul? Die Frage, was daran und warum das ein Problem sein sollte sei mal dahingestellt. Ich war überrascht, wie viel Aufhebens es um diese Frage gab und schockiert von einigen Mails und Facebook-Nachrichten, die ich bekommen hab. Da wurde ich echt beschimpft für das „scheiß schwule Buch“ und noch viel schlimmer.
Damit hab ich nicht gerechnet, aber zeigt ja nur, dass die Entscheidung richtig war, das als Thema anklingen zu lassen: da gibt’s noch eine Menge zu reden und zu kämpfen.

 

Reichenbach: Welche Funktion hat Lina für Janik?

Finn-Ole Heinrich (Foto: Denise Henning)
Finn-Ole Heinrich (Foto: Denise Henning)

Heinrich: Funktion? Das klingt mir zu technisch. Lina ist nicht seine große Liebe, aber sie ist auch kein Werkzeug für Janik. Er mag sie, er findet sie anziehend, er verbringt gern Zeit mit ihr. Er probiert sich aus, seine Lust. Es geht um Sex und nicht um die große romantische Liebe, obwohl er sich – er ist, wer er ist! Sohn seiner Eltern ... - ja doch daran abarbeitet. Er geht damit vielleicht nicht ganz offen um, aber er benutzt Lina nun auch nicht nach Strich und Faden. Ich finde, man muss da nicht zu moralisch sein.

Reichenbach: Welche Rolle spielt eigentlich Bubu?
Heinrich: Na, für mich war Bubu wichtig, weil er das Blickfeld ein bisschen erweitert. Ich wollte nicht, dass Irene die einzige Vertreterin aus dem Obdachlosen-Milieu ist, die auftaucht. Ich wollte, dass Janiks Interesse für diesen Winkel der Gesellschaft schon vor Samuel bestand, ich wollte auch ein bisschen Alltag zeigen. Von Irene kriegt man ja eher die großen Momente mit, das Besondere, die Geschichten, wie Samuel sie erzählt, die vielleicht schon stilisierten Betrachtungen von Janik. Die Szenen mit Bubu sind nüchterner, wie ein Dokumentarfilm: Mit Bubu konnte ich im Supermarkt Mundraub begehen, Zigarettenstummel rauchen, Flaschen sammeln, Kurze trinken. Auch interessant fand ich, dass dieser Strang nirgendwo hinführt, dass es da sozusagen keine Entwicklung gibt, Bubu ist – dramaturgisch gesehen – überflüssig, er löst keine Handlungsschritte aus, er trifft keine Entscheidungen, er geht nicht auf die Reise, er hat kein Ziel. Das ist genau das Gefühl, was Bubu wahrscheinlich mit sich rumschleppt: überflüssig zu sein, nicht gebraucht zu werden, ein Leben ohne Pointen zu leben. Und der einzig denkbare Twist, dass er spart und abhauen will, der ist nur ausgedacht und wahrscheinlich gar nicht wahr. Man weiß es nicht und wird es nicht erfahren.

Reichenbach: Warum ist das Buch aus Janiks Perspektive geschrieben?
Heinrich: Weil es die Perspektive war, die mich am meisten interessiert hat. Seine Schuld, der Umgang damit, die Neugierde, die Rebellion. Aber auch seine Sprache, seine Sichtweise, seine Sensibilität, auch die Wut. Die Möglichkeit zu Betrachtung und zu Be-schreibung von Samuel. Dieses Wissenwollen, Verstehenwollen, das war ein wichtiger Motor für die Geschichte. Janiks Antrieb, dem geheimnisvollen Samuel irgendwie näher zu kommen, ihn be-greifen zu wollen, das hat die Geschichte erst wirklich erzählbar gemacht. Es bestimmt den Ton, der ja irgendwie tastend, fragend, wertend, sich rechtfertigend, glorifizierend, anklagend ist.
Samuel als Erzähler hätte nicht diese Ausdrucksmöglichkeiten gehabt oder er hätte, wenn er sich so auskunftsfreudig auserklärt hätte wie Janik, sein Geheimnis zerstört.

Reichenbach: Wie nah an Deiner eigenen Biographie ist die Geschichte? Steckt in Dir ein Janik bzw. ein Samuel?
Heinrich: Nö, das hat so nichts mit mir zu tun. Ich habs ja schon am Anfang erklärt. Es gibt schon Bezüge zu meiner Welt, aber die konkreten Figuren und die Situationen, in denen sie stecken, haben mit meinem Leben nicht so richtig was zu tun. Natürlich sind viele meiner Fragen, meiner Themen, und Dinge, die mir aufgefallen, die ich eingesammelt habe im Text, aber deshalb bin ich nicht Janik oder Samuel.

Reichenbach: Welche Funktion haben die Beschreibungen des Fotos von Irene, die am Anfang jedes Kapitels stehen?
Heinrich: Das ist zeitlich gesehen die letzte Ebene der Geschichte. Sie schließt die Erzählung ab. Deshalb wollte ich ihr eine besondere Stellung in diesem Textgefüge geben. Und mir gefiel das Dräuen der Worte, der sich langsam entblätternden Rahmenhandlung in dieser Szene: Dass Janik die Bude ausräumt, die Wohnung auflöst, das Warum, wie er ihren Kram in ein paar Müllsäcke stopft, diesen Abschnitt in Samuels Leben beendet. Dazu das Foto, in dem man Samuels kaputte Familie nur erkennen kann, wenn man so viel über ihn weiß wie Janik. Und wie auch der Leser am Ende des Buches. Mir hat diese stückweise Vergabe von Informationen gut gefallen. Man fragt sich als Geschichtenerzähler ja auch ganz profan: wie arrangiere ich die Teile meiner Erzählung so, dass möglichst viel Spannung entsteht.

Reichenbach: Wie findest Du es, dass "Räuberhände" jetzt Abiturthema geworden ist?
Heinrich: Aufregend. Ich hatte auch ein bisschen Angst, ob der Text vielleicht „zerlesen“ wird im Unterricht, ob da die Lust, der Sound, die eigenen Fragen auf der Strecke bleiben. Ich weiß selbst noch genau, dass Bücher, über die ich Prüfungen schreiben musste, es nicht unbedingt leicht hatten, von mir gemocht zu werden.
Aber die Freude überwiegt schon deutlich: Viele Menschen lesen dieses Buch, sie denken viel darüber nach und diskutieren, sie kommen zu meinen Lesungen und haben Fragen, das ist toll und aufregend und im Grunde wohl das, was man sich als Autor immer wünscht: gelesen zu werden.

Reichenbach: Es gibt auch eine Theaterversion am Thalia Theater in Hamburg. Was macht diese Wandlung nochmal mit dem Stoff?
Heinrich: Es musste gekürzt werden, die Schwerpunkte mussten neu gesetzt werden, Janik, Samuel und Irene haben plötzlich ein Gesicht, eine Stimme, eine Körperhaltung. Ich glaube, das Theatererlebnis ist noch direkter, komprimierter, wuchtiger. Es ist laut, voller Bewegung und arbeitet mit starken Bildern. Dafür fehlt das Panoramahafte, es fehlt die Auseinandersetzung mit den Eltern und alle Gedanken dazu, auch zu Lina und Bubu, aber das Erstaunliche ist, dass es der Inszenierung im Thalia Theater gelungen ist, den Kern der Geschichte dabei nicht zu verletzten. Ich finde, sie haben es wirklich großartig hinbekommen, diese Geschichte sehr gut auf die Erfordernisse der Bühne zusammenzukürzen. Und die verschachtelte, unchronologische Erzählweise haben sie meisterhaft übertragen: bei all den vielen Sprüngen und Szenenwechseln behält man gut die Übersicht.

Reichenbach: Du arbeitest jetzt schon seit einigen Jahren als Autor und Filmemacher. Ist das immer noch ein Traumberuf? Wie sieht Deine Arbeit aus, was machst Du eigentlich so das ganze Jahr?
Heinrich: Ja, ist es. Was aber nicht heißt, dass es immer leicht ist. Ich kann mich einerseits sehr viel mit mir und meinen Fragen beschäftigen, mir Zeit dafür nehmen. Ich kann mir Geschichten ausdenken, treffe viele interessante Menschen und arbeite mit ihnen zusammen, ich gehe viel auf Tour, reise, sehe viele Städte, fremde Länder, leider oft allein, manchmal mit dem unsortierten Orchester oder Spaceman Spiff. In den letzten Jahren hatte ich immer etwa hundert Auftritte pro Jahr. Andererseits kann es auch eine Herausforderung sein, auf ein festes, geregeltes Einkommen und die damit einhergehende Sicherheit zu verzichten und sich seine ganze Arbeit selbst organisieren zu müssen. Dazu gehört viel Disziplin. Außerdem kann das Schreiben wunderschön und erfüllend sein, aber auch schmerzhaft, anstrengend und einsam.

Reichenbach: "Räuberhände" hat ja ein relativ offenes Ende. Überlegst Du Dir "Räuberhände Teil 2" zu schreiben? Wäre doch interessant zu wissen, was aus der Freundschaft der beiden, in vielleicht 10 Jahren, geworden ist? Oder glaubst Du nicht, dass sich die beiden in 10 Jahren noch kennen werden?
Heinrich: Ich wünsche es ihnen! Und ich glaube auch, dass die beiden einander so wichtig sind, dass sie immer bemüht sein werden, es von Zeit zu Zeit miteinander zu versuchen. Für den Moment mögen sie gescheitert sein. Aber da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Geschrieben ist das letzte Wort allerdings. Ich kann mir nicht vorstellen, einen zweiten Teil zu schreiben. Stimmt zwar, dass das schon ganz interessant wäre, die Situation zehn Jahre danach noch mal zu untersuchen, aber im Moment bin ich im Kopf ganz woanders.